Die Grundsicherungsfarce: Wenn Semantik zur Sozialpolitik wird

Aus „Bürgergeld“ wird „Grundsicherung“ – ein Wortspiel, das Millionen Menschen in existenzielle Not stürzen könnte. Die schwarz-rote Koalition inszeniert sprachliche Kosmetik als große Reform und bricht dabei das Grundgesetz.

Die deutsche Politik hat ein neues Lieblingsmärchen: Friedrich Merz verkündet das Ende des Bürgergeldes. „Wir werden die Mitwirkungspflichten deutlich verstärken, wir werden auch die Sanktionsmöglichkeiten deutlich erhöhen“, tönt der Kanzler. Was folgt, ist ein Lehrbeispiel politischer Kommunikation im Orwell’schen Sinn: Verschärfung heißt jetzt Hilfe, Kürzung wird Reform, Existenzvernichtung nennt sich Aktivierung.​

Das Spiel mit den Worten:
Frame-Semantik als Machtinstrument

Die Umbenennung des Bürgergeldes in „Grundsicherung“ ist kein Zufall. Sie folgt der Frame-Semantik, die Elisabeth Wehling als „Deutungsrahmen“ beschreibt. Hinter jedem politischen Begriff verbirgt sich ein Bedeutungsrahmen, der „komplexe Sachverhalte für unser Gehirn leichter denkbar“ macht.​

Bürgergeld evoziert Teilhabe, Würde, Bürgerrechte. Grundsicherung hingegen suggeriert ein Minimum, eine Grundausstattung – etwas, womit man sich zufriedengeben soll. Dietrich Busse erklärt diese „epistemische Kontextualisierung“: „Sprachliche Zeichen evozieren Frames oder Frame-Komplexe. Sie aktivieren Sektoren von Wissen“. Die Koalition nutzt dieses Wissen gezielt: Aus sozialer Teilhabe wird existenzielle Sicherung auf niedrigstem Niveau.​

Die politische Lexik wird zum „idealen Gegenstand für einen frame-analytischen Ansatz“, wie Fillmores Beispiele zeigen: „Steuererleichterung“ statt „Steuerreduzierung“ thematisiert „das Leiden unter einer Last“. Ebenso wird aus dem Angriff auf Arme eine „Reform“ für „Totalverweigerer“.​

Die Verschärfungsrhetorik:
Gewalt als Fürsorge verpackt

Arbeitsministerin Bärbel Bas formuliert das Programm unverblümt: „Wer nicht mitmacht, wird es schwer haben. Wir verschärfen die Sanktionen bis an die Grenze dessen, was verfassungsrechtlich zulässig ist“. Diese Aussage entlarvt die ganze Perfidie: Die Regierung weiß um die Verfassungswidrigkeit ihrer Pläne und kalkuliert bewusst Verfassungsklagen ein.​

Das Sanktionsregime sieht eine perfide Eskalationsspirale vor:​

  • Erster versäumter Termin: 30% Kürzung
  • Zweiter versäumter Termin: weitere 30% Kürzung
  • Dritter versäumter Termin: komplette Streichung des Regelsatzes
  • Vierter versäumter Termin: Streichung auch der Mietzahlungen

Die Folge: kalkulierte Obdachlosigkeit.

Totalverweigerer:
Die Konstruktion des Feindbildes

Die Koalition konstruiert das Feindbild der „Totalverweigerer“. Wer sind diese Menschen? Das Surplus-Magazin deckt die Realität auf: Maria, alleinerziehende Mutter eines pflegebedürftigen Kindes, die vormittags arbeitet, aber keine sechs Stunden täglich kann, weil sie ihr Kind betreuen muss. Sie wird zur „Totalverweigerin“, weil das System ihre Lebensrealität ignoriert.​

Die AWO entlarvt die Propaganda: „Nicht einmal ein Prozent der Bürgergeld-Empfänger*innen verweigert die Aufnahme von Arbeit“. Unter dem „Vorwand dieser sogenannten ‚Totalverweigerer‘ nun Millionen von Familien zu bestrafen, geht völlig an der Realität vorbei“.​

Verfassungsbruch als Regierungsprogramm

Das Bundesverfassungsgericht hat 2010 das „Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums“ aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG abgeleitet. Dieses Grundrecht ist „dem Grunde nach unverfügbar“ und muss „eingelöst werden“.​

Das Gericht stellte unmissverständlich fest: Das menschenwürdige Existenzminimum umfasst nicht nur „das zum Überleben unbedingt Notwendige“, sondern auch „ein Minimum an sozialer Teilhabe“. Es sichert „diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind“.​

2019 erklärte das Bundesverfassungsgericht Sanktionen über 30 Prozent für verfassungswidrig. Die Begründung: „Durchgreifende Bedenken gegen die Eignung der Sanktion in dieser Höhe ergeben sich insbesondere daraus, dass der Verlust der Wohnung droht“.​

Die geplanten Totalsanktionen verstoßen evident gegen diese Rechtsprechung.

Die Mechanik der Entrechtung

Die Sozialrechtsprofessorin Andrea Kießling bringt es auf den Punkt: „Für bloße Meldeversäumnisse kann man meiner Meinung nach nicht die Leistungen für die Unterkunft streichen“. Der Verein „Sanktionsfrei“ spricht von einem „kalkulierten Verfassungsbruch“.​

Das Sozialgericht Karlsruhe bezeichnete kürzlich den „Entzug des Regelsatzes einer Bürgergeld-Berechtigten für absolut rechtswidrig“ und bereute „zutiefst seinen im Fall der Klägerinnen einstweilen verfassungswidrigen Irrweg“.​

Trotzdem hält die Koalition an ihren Plänen fest. AWO-Präsident Michael Groß warnt: „Es ist absurd, Menschen aufgrund verpasster Termine die Existenzgrundlage zu nehmen“. Die Reform drohe, „Menschen in die Obdachlosigkeit zu treiben“.​

Die Ideologie der Aktivierung:
Armut als Charakterschwäche

Hinter der „Reform“ steht eine perfide Ideologie: Armut wird zur Charakterschwäche umgedeutet. Das Surplus-Magazin analysiert treffend: „Mit dieser Ideologie werden soziale Missstände zu einem Ergebnis individuellen Fehlverhaltens und fehlender Motivation umgedeutet“.​

Die Realität sieht anders aus: Schätzungsweise 40 Prozent der Menschen, die Anspruch auf Bürgergeld hätten, rufen es nicht ab. Statt diese „verdeckte Armut“ zu bekämpfen, wird die sichtbare Armut bestraft.​

Niedriglohnsektor als Profiteur

Das Surplus-Magazin deckt die wahren Profiteure auf: „Je schlechter das soziale Sicherungssystem, desto wahrscheinlicher ist es, dass Menschen auch Arbeit zu unwürdigen Bedingungen und schlechten Löhnen machen“. Die Union habe „noch nicht einmal Interesse an einem armutsfesten Mindestlohn“, weil das „zum Nachteil für milliardenschwere Unternehmen“ wäre, „die von billigen Arbeitskräften profitieren“.​

Folgekosten der Verarmung

Die AWO warnt vor massiven gesellschaftlichen Verwerfungen: Das Existenzminimum sei bereits heute nicht armutsfest und werde durch die geplanten Kürzungen „zur letzten Haltelinie“. Die Folgekosten werden immens: Obdachlosigkeit, psychische Erkrankungen, Kriminalität, Familienzerfall. Was als „Einsparung“ verkauft wird, verursacht langfristig Mehrkosten in anderen Systemen.​

Das Ende der Menschenwürde

Die geplante „Grundsicherung“ ist mehr als eine Reform – sie ist die systematische Entrechtung der Ärmsten. Wenn Menschen wegen versäumter Termine die Wohnung verlieren können, ist die Grenze zur Menschenverachtung überschritten.

Das Bundesverfassungsgericht hat es 2010 klar formuliert: Das Grundrecht auf menschenwürdiges Existenzminimum ist „dem Grunde nach unverfügbar“. Es gibt keine „Totalverweigerer“ der Menschenwürde – es gibt nur eine Politik, die diese Würde mit Füßen tritt.​

Die semantische Trickserei kann nicht verbergen, was diese „Reform“ wirklich ist: Ein Angriff auf die Verfassung im Namen der Sparsamkeit. Ein Systemwechsel, der Armut kriminalisiert und Existenzangst als Motivation pervertiert. Eine Gesellschaft, die Menschen wegen versäumter Termine obdachlos macht, hat ihre Menschlichkeit verloren.