Das Ende von Rocco del Schlacko und das Festivalsterben: Bedeutung für Jugendkultur und Gesellschaft

Wenn die Musik stirbt: Das Ende einer Ära und was dahinter steckt

Das Saarland hat seinen Soundtrack verloren. Nach 26 Jahren Rocco del Schlacko ist Schluss – die Veranstalter haben das Aus verkündet und mit ihnen stirbt ein Stück gelebter Jugendkultur.Was nach einem simplen Wirtschaftsthema klingt, offenbart bei genauerem Blick ein gesellschaftliches Problem von dramatischem Ausmaß. Denn wenn kleine Festivals verschwinden, verschwinden nicht nur Bühnen. Es verschwinden Treffpunkte, Sozialräume, kulturelle Ankerpunkte – und mit ihnen die Chance für junge Menschen, sich jenseits digitaler Echokammern zu begegnen und gemeinsam Erfahrungen zu machen.

Das Phänomen ist kein lokales Saarland-Problem. Von Melt bis Mini-Rock, von Rocken am Brocken bis zu unzähligen namenlosen DIY-Events: Deutschland erlebt ein veritables Festivalsterben.Die Gründe sind vielschichtig, die Folgen weitreichend – und sie reichen weit über die Musikszene hinaus in die politische Landschaft unseres Landes.

Die brutale Ökonomie des Festivalsterbens

Explodierte Kosten treffen auf schrumpfende Budgets

Die Zahlen sind ernüchternd. Seit Corona sind die Produktionskosten um geschätzte 45 Prozent gestiegen. Was das Hurricane-Festival mit einem Kostenplus von 45 Prozent noch stemmen kann, bricht kleineren Veranstaltern das Genick. Personal, Energie, Sicherheit, Technik – alles wird teurer, während die Budgets gleich bleiben oder sogar schrumpfen.

Ein mittelgroßes Festival mit 10.000 Besuchern kalkuliert heute mit mindestens 300.000 bis 600.000 Euro Gesamtkosten. Künstlergagen allein können bereits 50.000 bis 200.000 Euro verschlingen. Für ein kleines Festival mit 1.000 Besuchern bedeutet das: Die Fixkosten pro Kopf sind unverhältnismäßig hoch, die Ticketpreise müssten explodieren – oder das Event ist nicht mehr finanzierbar.

Die Macht der Konzerne und das Ende der Unabhängigkeit

Rocco del Schlacko formulierte das Problem präzise: Die Organisatoren sahen sich von „Exklusiv-Deals und Headliner-Touren der Konzerne zerquetscht“. Große Veranstalter sichern sich Exklusivrechte an beliebten Bands, kleine Festivals können kaum noch attraktive Line-ups buchen, ohne sich finanziell zu übernehmen. Der Wunsch, das Festival nur „so zu machen, wie ihr es kennt und liebt“, war unter diesen Marktbedingungen nicht mehr erfüllbar. Statt sich zum „Geldeintreiber von Konzernen“ degradieren zu lassen, entschieden die Rocco-Organisatoren aufzuhören.

Veränderte Konsumgewohnheiten der Generation Z

Parallel dazu wandelt sich das Verhalten der Zielgruppe fundamental. Die Generation Z wählt eher ein teures „Once-in-a-lifetime“-Konzert von einem Superstar als mehrere kleine Festivals zu besuchen. Warum drei regionale Events für insgesamt 200 Euro, wenn man einmal Taylor Swift für 300 Euro sehen kann? Das Ergebnis: Mega-Events sind ausverkauft, mittelgroße Festivals kämpfen um jeden Besucher.

Bürokratie und strukturelle Hürden

Dazu kommen verschärfte Sicherheitsauflagen, Umweltauflagen und komplexere Vorschriften, die den Organisationsaufwand exponentiell erhöhen. Was große Festivals mit professionellen Strukturen noch stemmen können, überfordert ehrenamtlich getragene Events. Wenn sich dann noch der Nachwuchs im Organisationsteam nicht findet, ist das Ende programmiert.

Mehr als nur Musik: Was Festivals für die Jugend bedeuten

Sozialisationsorte in der kulturellen Wüste

Festivals sind weit mehr als Konzertveranstaltungen. Sie sind „jugendkulturelle Sozialisationsorte“, wie das Jugendministerium treffend formuliert. Gerade in ländlichen Gegenden mit begrenztem Kulturangebot bieten sie ein seltenes Gefühl von „hier passiert etwas“. In einer Umfrage forderten Jugendliche explizit „mehr Musikveranstaltungen/Festivals“ und „eine breite Vielfalt an jugendkulturellen Angeboten, die ansprechend und gut zu erreichen sind“.

Diese Forderung zeigt, wie essenziell solche Events für Lebensqualität und Identitätsfindung junger Menschen sind. Festivals schaffen Gemeinschaftsgefühl: Gemeinsam mit Gleichgesinnten zelten, neue Bands entdecken, Freiräume jenseits von Schule und Elternhaus erleben – all das prägt nachhaltig.

Identitätsstiftung und kulturelle Teilhabe

Viele kleine Festivals haben einen familiären Charakter und betonen Werte der Subkultur und Diversität. Das Rocken am Brocken stand unter dem Motto „Natur. Musik. Freundschaft“ und bot neben Konzerten auch Workshops, Lesungen und Sport mit besonderem Augenmerk auf Nachhaltigkeit und Diversität. Solche Events ermöglichen Jugendlichen, Teil einer Gemeinschaft zu sein, die ihre Interessen und Werte teilt.

Do-it-yourself-Kulturförderung als gesellschaftlicher Kitt

Kleine Festivals wirken als Ankerpunkte der Kultur in strukturschwachen Regionen. Das Mini-Rock-Festival hatte fast 20 Jahre lang das Ziel, „etwas für die Jugendlichen und jungen Leute in Horb und der Region zu schaffen“. Diese DIY-Kulturförderung füllte eine Lücke, die kommerzielle Anbieter oft lassen. Gleichzeitig lernten Jugendliche durch ihre Mitarbeit wichtige Fähigkeiten und erlebten Selbstwirksamkeit.

Die ehrenamtlichen Helfer-Teams verstehen sich nicht selten als „Familie“ – der Zusammenhalt, der hier entsteht, ist selbst ein soziales Kapital für die Region. Durch Projekte wie Awareness-Teams und Anti-Diskriminierungsarbeit vermitteln die Veranstalter zudem demokratische Werte und Toleranz.

Gefährliche Lücken: Wenn rechte Gruppen Kulturräume besetzen

Das politische Vakuum in der Provinz

Wenn in einer Region bekannte Jugend-Events wegfallen, hinterlässt das bei vielen jungen Bewohnern ein Gefühl der Leere. Wo vorher jährliche Highlights das Gemeinschaftsgefühl stärkten, bleibt nun „nichts los“. Besonders in ohnehin benachteiligten ländlichen Räumen verstärkt das den Eindruck, abgehängt zu sein.

Eine Studie zeigt: 22 Prozent der 14- bis 29-Jährigen neigen inzwischen zu rechtsextremen Positionen. Immer mehr junge Menschen wenden sich rechten Parteien zu, gleichzeitig ist die Stimmung unter ihnen schlecht. Klaus Hurrelmann, renommierter Jugendforscher, sieht einen Zusammenhang: „Es wirkt so, als hätte die Corona-Pandemie eine Irritation im Vertrauen auf die Zukunftsbewältigung hinterlassen, die sich in einer anhaltend tiefen Verunsicherung niederschlägt“.

Rechtsextreme als Lückenfüller

Die Amadeu Antonio Stiftung warnt vor einem erschreckenden Phänomen: In manchen Regionen kommt ein „Gegenangebot zu Einsamkeit und Vereinzelung vor allem von rechtsextremen Jugendgruppen“. Von gemeinsamen Wanderungen bis hin zu Kampfsporttraining – solche Aktivitäten vermitteln Zugehörigkeit und Abenteuer, allerdings gekoppelt an völkische Ideologie.

Jugendliche, die keine alternativen Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung finden, laufen Gefahr, sich von der vermeintlichen „Rebellion“ rechtspopulistischer Kreise angezogen zu fühlen. Das ist kein Zufall: Rechtsextreme Gruppen haben verstanden, dass kulturelle Hegemonie wichtiger ist als politische Macht. Sie besetzen systematisch Räume, die andere leer lassen.

Politikverdrossenheit durch fehlende Beteiligungschancen

Wenn Orte wegfallen, an denen Jugendliche eigenständig etwas organisieren oder einfach „ihre“ Kultur leben können, trägt dies zur Entfremdung von der Gesellschaft bei. Während Corona erlebten junge Menschen, wie Sozialisationsorte ersatzlos geschlossen wurden – viele fühlten sich „von der aktuellen Politik vergessen“ und reagierten „politikverdrossen und demokratiemüde“.

Der dauerhafte Verlust von Festivals verstärkt das Gefühl, dass Bedürfnisse der Jugend ignoriert werden. Frustration und Protesthaltung können wachsen – ein Nährboden, den Parteien wie die AfD mit ihrem Anti-Establishment-Duktus auszuschöpfen versuchen.

Empirische Belege für den Zusammenhang

Korrelationen zwischen kultureller Infrastruktur und politischen Einstellungen

Tatsächlich lassen sich gewisse Korrelationen beobachten. Eine IW-Studie fand heraus, dass hohe Wahlergebnisse der AfD oft mit schwächerer öffentlicher Daseinsvorsorge einhergehen – in Gemeinden, wo staatliche Infrastruktur und Angebote dünn sind, hat der Rechtspopulismus leichteres Spiel. Kulturelle Angebote gehören zur Daseinsvorsorge im weiteren Sinne.

Die Bundeszentrale für politische Bildung berichtet, dass in manchen ländlichen Räumen rechte Jugendkulturen die Dominanz übernommen haben – Neonazi-Konzerte, Rechtsrock-Festivals oder Brauchtumsfeiern schaffen eine Parallel-Kultur, die neue Anhänger anzieht.

Das Beispiel Brandenburg: Wenn die AfD Jugendkultureinrichtungen angreift

Ein aktuelles Beispiel zeigt, wie systematisch rechte Kräfte gegen Jugendkultur vorgehen: In Brandenburg an der Havel fordert die AfD-Fraktion dem Haus der Offiziere (HdO) Fördergelder zu streichen. Das HdO ist ein wichtiges soziokulturelles Zentrum, das jungen Menschen Räume für Kreativität, Bildung und Austausch bietet.

Die Strategie ist perfide: Zunächst werden kulturelle Angebote systematisch geschwächt oder geschlossen, dann bieten rechte Gruppen Ersatzangebote an. Das Muster wiederholt sich bundesweit. Die AfD stellt im sächsischen Landtag Anfragen zur öffentlichen Finanzierung von Kultureinrichtungen und Vereinen. Rund 40 Kulturinstitutionen, Theater, Museen oder Einrichtungen, die von staatlicher Förderung abhängig sind, stehen im Visier.

Internationale Vergleiche

In anderen Ländern zeigen sich ähnliche Muster. In Ungarn und Polen nutzten rechtspopulistische Regierungen gezielt Kürzungen im Kulturbereich, um die Zivilgesellschaft zu schwächen. In den USA zeigten sich in den 1990er Jahren vergleichbare Entwicklungen: Wo staatliche Jugendarbeit fehlte, entstanden rechte „Freizeitangebote“.

Lösungsansätze: Kultur als demokratisches Projekt

Staatliche Verantwortung und Strukturförderung

Die Politik muss Kulturförderung als Demokratieförderung verstehen. Gezielte Förderungen für Kulturveranstalter im ländlichen Raum und der Abbau bürokratischer Hürden können helfen, damit solche Events finanziell überleben. Das bedeutet nicht nur Geld, sondern auch vereinfachte Genehmigungsverfahren und langfristige Planungssicherheit.

Die Forderung der Jugendlichen selbst ist ein klarer Handlungsauftrag: „Wir brauchen eine breite Vielfalt an jugendkulturellen Angeboten“. Das ist keine Luxusforderung, sondern demokratische Notwendigkeit.

Neue Konzepte für eine veränderte Welt

Können neue Konzepte die Lücke füllen, die wegfallende Großevents hinterlassen? Kleinere, lokalere Festivals mit mehr Einbindung von Jugendinitiativen könnten eine Antwort sein. Hybride Formate, die digitale und analoge Elemente verbinden, mobile Festivals, die zwischen verschiedenen Orten rotieren, oder Kooperationen zwischen verschiedenen Kulturträgern.

Digitale Solidarität und neue Organisationsformen

Die Digitalisierung muss als Chance begriffen werden, nicht als Bedrohung. Online-Plattformen können helfen, Festivals zu organisieren, Kosten zu reduzieren und neue Zielgruppen zu erreichen. Crowdfunding, digitales Ticketing und Social Media-Marketing können auch kleineren Veranstaltern professionelle Tools an die Hand geben.

Gleichzeitig braucht es neue Formen des ehrenamtlichen Engagements, die der Lebenswirklichkeit junger Menschen entsprechen. Flexible, projektbezogene Mitarbeit statt jahrelanger Vereinsarbeit, digitale Koordination statt wöchentlicher Treffen.

Fazit: Der Kampf um die Jugendkultur ist ein Kampf um die Demokratie

Das Ende von Rocco del Schlacko ist mehr als der Verlust eines Festivals – es ist das Symbol für eine gefährliche gesellschaftliche Entwicklung. Wenn kulturelle Freiräume verschwinden, entstehen politische Vakuen. Wenn junge Menschen keine positiven Gemeinschaftserfahrungen machen können, sind sie anfälliger für extremistische Ansprache.

Die Verteidigung der Festivalkultur ist daher eine demokratische Aufgabe. Es geht nicht um Nostalgie oder Partytourismus, sondern um den Erhalt von Sozialisationsräumen, die für eine offene Gesellschaft unverzichtbar sind. Jeder verlorene Festival-Sommer ist ein Verlust an gemeinsamen Geschichten und Erlebnissen, die junge Menschen prägen.

Die Entwicklung mag schleichend sein, doch die Folgen sind spürbar. Gesellschaft und Politik müssen verstehen: Kulturpolitik ist Jugendpolitik ist Demokratiepolitik. Wer Festivals sterben lässt, macht Platz für andere – und die sind nicht immer demokratisch gesinnt.

Es gilt, dieser Tendenz etwas entgegenzusetzen, sei es durch Kreativität der Kulturschaffenden oder Unterstützung der öffentlichen Hand, damit auch kommende Generationen auf dem Acker vor ihrer Haustür noch unbeschwert „Remmidemmi“ erleben können und dabei erfahren, was Zusammenhalt bedeutet. Denn letztlich ist der Kampf um Festivals immer auch ein Kampf um die Jugendkultur – und damit um unsere gemeinsame demokratische Zukunft.